„Vieles von dem, was der heimgekehrte Spaziergänger erzählt, hatte er nicht gesehen, und vieles von dem, was er gesehen hatte, wird in seiner Erzählung weggeblendet. Das Bild, das er beschreibt, ist montiert aus Vorkenntnissen und Teilaspekten, die er auf dem Wege zusammengelesen hat. Dennoch ergibt sich ein ganz sicheres Wissen.“ – Lucius Burckhardt: Promenadologische Betrachtungen über die Wahrnehmung der Umwelt und die Aufgaben unserer Generation, 1996
Arne Schmitt ist auf der Suche nach den manifest gewordenen Konsequenzen politischer Haltungen. Seine Methode ist vergleichbar mit der Spaziergangswissenschaft, die Lucius Burckhardt in den 1980er Jahren entwickelt hatte. Präzise schreitet er seine Umgebung ab und dokumentiert fotografisch jene Orte, an denen sich symptomatische Interessen von Stadtplanung oder Privatwirtschaft auf eindrückliche Weise niedergeschlagen haben – langlebige ebenso wie kurze oder skandalträchtige. Er zeichnet auf, selektiert und setzt neu zusammen. Die Atmosphäre des Wiederaufbaus in der westdeutschen Nachkriegszeit und der Siegeszug des Neoliberalismus markieren die äußeren Referenzpunkte dieses Vorhabens, das nicht allein die dargestellten Motive umfasst, sondern immer wieder auch historische Ästhetiken von Wissensvermittlung zitiert. Dies wird besonders in seinen zahlreichen Buchpublikationen deutlich, z.B. wenn Arne Schmitt wie in den engagierten Architekturfotografiebüchern der 1960er Jahre Fotografie und Text als gleichrangige Parallelebenen behandelt, die er zu Essays verschmilzt, zeigt sich aber auch in der Konzeption seiner Ausstellungen. „Einer unter Vielen“ demonstriert diese Auffassung von Text und Bild als äquivalente Bestandteile seiner Arbeit durch das formale und inhaltliche Wechselspiel an der Wand. Rhythmisch wie das Traktat eines gescheiterten Zukunftsentwurfs kombiniert die Installation Fotografien von Ernst Neuferts Darmstädter Ledigenheim – einem nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Wohnkomplex für alleinstehende Männer, das nach seiner Kernsanierung heute zu den gefragten Adressen der Stadt zählt – mit historischen und aktuellen Verweisen auf das spannungsvolle Verhältnis von Gemeinschaft, Individualisierung und Architektur.
Kerstin Meincke
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Ein Denkmal des Alleinseins – so bezeichnete 1960 der Architekturkritiker Ulrich Conrads das Ledigenheim von Ernst Neufert in einer kritischen Analyse des Darmstädter Wiederaufbaus. Es war eines von fünf Gebäuden, die 1951 im Rahmen des zweiten Darmstädter Gesprächs entworfen und in den Folgejahren umgesetzt worden waren, wenn auch teils stark verändert. Neuferts ursprünglicher Entwurf war ein offener Bau aus drei ineinandergeschobenen Riegeln: ihm sei bei der Bauaufgabe immer die Idee eines städtischen Ferienheims vorgeschwebt, alles Kasernenhafte sollte strikt vermieden werden. Dies war nicht mehr aufrechtzuerhalten, als sich zu Beginn der Umsetzung die Anzahl der geforderten Wohneinheiten mehr als verdoppelte: das Gebäude wurde aufgestockt und durch einen vierten Riegel ergänzt, sodass ein enger Innenhof entstand und die Wohnungen durch düstere zweispännige Gänge erschlossen werden mussten. Den veranschlagten Gemeinschaftsspeisesaal ersetzte bald ein Restaurant, was die männlichen Mieter auf ihre winzigen Kochnischen zurückwarf; das Gebäude wurde berüchtigt, im Volksmund “Bullenburg” genannt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde es grundlegend renoviert: nur ein Teil der Kleinstwohnungen blieb in Absprache mit der Denkmalschutzbehörde erhalten. Die anderen wurden zu großzügigen Wohnungen mit hohem Eigentumsanteil zusammengelegt, teils als Maisonette, im ausgebauten Dachgeschoss mit integriertem Atrium; auf dem Klingelbrett finden sich nun Doktoren- und Professorentitel. Das Angebot einer günstigen Wohnung, auch nach Abschluss der Renovierung, haben die meisten Vormieter ausgeschlagen; sie haben das Haus verlassen.
Arne Schmitt
“When the promenader comes home, a lot of the things he recounts he has not seen, and a lot of the things he has seen are omitted in his recount. The image he describes is assembled from previous knowledge and partial aspects, which he has been gathering on his way. Yet, a definite kind of knowledge emerges.” – Lucius Burckhardt: Promenadologische Betrachtungen über die Wahrnehmung der Umwelt und die Aufgaben unserer Generation, 1996.
Arne Schmitt is searching for the concretized effects of political agendas. His method is comparable to promenadology, which was devised by Lucius Burckardt in the 1980s. Concisely, he paces his surroundings and photographically documents those places where symptomatic interests of urban planning and private business have manifested themselves in a striking manner – some persistent, some ephemeral or scandalous. He registers, selects and re-assembles. The atmosphere of post-war reconstruction in West Germany and the triumph of neoliberalism mark the outer points of reference of this endeavor which comprises not only the actual subject but repeatedly recalls historical aesthetics of knowledge transfer. This becomes apparent in his book publications especially, for example when Schmitt treats image and text as two equal and parallel layers and blends them into essays, as committed photo books dealing with architecture did in the 1960s. This is also illustrated in his concept of making exhibitions: “One among Many” demonstrates this idea of image and text being equivalent components of his work, through the alternation on the wall in both form and content. Rhythmically, like the treatise of a failed future project, the installation combines photographs of Ernst Neufert’s Ledigenheim in Darmstadt – a residential building complex which was built for unmarried men after World War II and following its complete development has become a sought-after address in the city today – with historical and current references to the tense relationship between community, individualization and architecture.
Kerstin Meincke
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A monument to loneliness – this is how architectural critic Ulrich Conrads defined the character of Ernst Neufert’s home for single men in an article from 1960, trying to evaluate the process of reconstruction in the city of Darmstadt. It was one of five buildings, which had been designed in 1951, commissioned on occasion of the second “Darmstädter Gespräch” [conversation of Darmstadt]. It was built in the mid 1950s, decisively altered though: Neufert’s original design had been an open, light building consisting of three combined blocks. He said that in the process of designing, he always thought of it as an urban holiday resort; every association of barracks should be avoided. However, this intention became impossible to uphold once the number of required rooms had doubled at the beginning of the building process: thus, it ended up with one more storey, a fourth block which created a narrow inner courtyard, and long somber corridors leading to the apartments. Soon after completion, the shared dining room was substituted by a restaurant which left the male tenants with their tiny kitchenettes; the building became infamous, people named it “prole castle”. At the beginning of the 21st century, it was fundamentally renovated: only a small percentage of the dwellings were preserved and put under monumental protection. The others were merged into lavish apartments, most of them owner-occupied: some as maisonettes, some including an atrium on the top floor; the doorbell panel now holds several names with academic degrees. Most previous tenants have not taken the offer of an apartment at a special price after renovation; they have left the building.
Arne Schmitt