Max Horkheimer – Der Wolkenkratzer
Ein Querschnitt durch den Gesellschaftsbau hätte ungefähr folgendes darzustellen: Obenauf die leitenden, aber sich untereinander bekämpfenden Trustmagnaten der verschiedenen kapitalistischen Mächtegruppen; darunter die kleineren Magnaten, die Großgrundherren und der ganze Stab der wichtigen Mitarbeiter; darunter – in einzelne Schichten aufgeteilt – die Massen der freien Berufe und kleineren Angestellten, der politischen Handlanger, der Militärs und Professoren, der Ingenieure und Bürochefs bis zu den Tippfräuleins; noch darunter die Reste der selbständigen kleinen Existenzen, die Handwerker, Krämer und Bauern e tutti quanti, dann das Proletariat, von den höchst bezahlten gelernten Arbeiterschichten über die ungelernten bis zu den dauernd Erwerbslosen, Armen, Alten und Kranken. Darunter beginnt erst das eigentliche Fundament des Elends, auf dem sich dieser Bau erhebt, denn wir haben bisher nur von den hochkapitalistischen Ländern gesprochen, und ihr ganzes Leben ist ja getragen von dem furchtbaren Ausbeutungsapparat, der in den halb und ganz kolonialen Territorien, also in dem weitaus größten Teil der Erde funktioniert. Weite Gebiete des Balkans sind ein Folterhaus, das Massenelend in Indien, China, Afrika übersteigt alle Begriffe. Unterhalb der Räume, in denen millionenweise die Kulis der Erde krepieren, wäre dann das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere, die Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft darzustellen, der Schweiss, das Blut, die Verzweiflung der Tiere.
Man spricht gegenwärtig viel von »Wesensschau«. Wer ein einziges Mal das »Wesen« des Wolkenkratzers »erschaut« hat, in dessen höchsten Etagen unsere Philosophen philosophieren dürfen, der wundert sich nicht mehr, daß sie so wenig von dieser ihrer realen Höhe wissen, sondern immer nur über eine eingebildete Höhe reden; er weiß, und sie selbst mögen ahnen, daß es ihnen sonst schwindlig werden könnte. Er wundert sich nicht mehr, daß sie lieber ein System der Werte als eines der Unwerte aufstellen, daß sie lieber »vom Menschen überhaupt« als von den Menschen im besonderen, vom Sein schlechthin als von ihrem eigenen Sein handeln: sie könnten sonst zur Strafe in ein tieferes Stockwerk ziehen müssen. Er wundert sich nicht mehr, daß sie vom »Ewigen« schwatzen, denn ihr Geschwätz hält, als ein Bestandteil seines Mörtels, dieses Haus der gegenwärtigen Menschheit zusammen. Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel.
Max Horkheimer, Dämmerung. Notizen in Deutschland, in Id., Gesammelte Schriften, Fischer, Frankfurt a.M. 1985ff, Bd. 2, pp. 379-380
Max Horkheimer – The Skyscraper
A cross section of today’s social structure would have to show the following: At the top, the feuding tycoons of the various capitalist power constellations. Below them, the lesser magnates, the large landowners and the entire staff of important co-workers. Below that, and in various layers, the large numbers of professionals, smaller employees, political stooges, the military and the professors, the engineers and heads of office down to the typists. And even further down what is left of the independent, small existences, craftsmen, grocers, farmers e tutti quanti, then the proletarian, from the most highly paid, skilled workers down to the unskilled and the permanently unemployed, the poor, the aged and the sick. It is only below these that we encounter the actual foundation of misery on which this structure rises, for up to now we have been talking only of the highly developed capitalist countries whose entire existence is based on the horrible exploitation apparatus at work in the partly or wholly colonial territories, i.e., in the far larger part of the world. Extended regions in the Balkans are torture chambers, the mass misery in India, China, Africa boggles the mind. Below the spaces where the coolies of the earth perish by the millions, the indescribable, unimaginable suffering of the animals, the animal hell in human society, would have to be depicted, the sweat, blood, despair of the animals. We hear a great deal these days about the `intuition of essence`. Anyone who once “intuited” the “essence” of the skyscraper on whose highest floor our philosophers are allowed to pursue their discussion will no longer be sursprised that they know so little about the real height at which they find themselves, and that they always talk only about an imaginary one. Such a person knows, and they may suspect, that otherwise they might become dizzy. He is no longer surprised that they would rather set up a system of values than one of disvalues, that they rather talk about “man in general” than about the concrete individual, about being generally rather than their own. For if they did, they might be punished by being sent to a lower floor. The observer will no longer be surprised that they prattle about the “eternal” for as does the mortar, that prattle holds together this house of present-day mankind.The basement of that house is a slaughterhouse, its roof a cathedral, but from the windows of the upper floors, it affords a really beautiful view of the starry heavens.
M. Horkheimer, Dämmerung. Notizen in Deutschland, in Id., Gesammelte Schriften, Fischer, Frankfurt a.M. 1985ff, Bd. 2, 379-380.
Dawn & decline: notes 1926-1931 and 1950-1969, translated by Michael Shaw, Seabury Press, New York 1978, 66ff.